Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich unbedingt nach der Schulzeit eine Auszeit im Ausland machen wollte, entweder als Au Pair oder im Freiwilligendienst. Ich war jung, ich hatte noch eine überschaubare Menge an Verantwortung, ich war durstig, Neues kennenzulernen, und vor allem wusste ich nicht, was ich studieren sollte, da mein Abiturzeugnis von 1,9 für ein Medizinstudium leider nicht für einen Studienplatz genügte. Aber ich hatte kein Geld und auch keine Geduld, mir dieses anzueignen und anschließend wegzufahren. Und somit habe ich einfach in Berlin ein anderes Studium begonnen und hab mir, wenn ich ehrlich sein soll, nie Zeit genommen, um über mein Leben und meinen Weg nachzudenken, bis ich nach meinem Bachelorstudium und meinem darauffolgenden Praktikum in Sao Paulo, Brasilien, drei Monate durch Südamerika reiste.
Aber seien wir uns mal ehrlich: Muss man immer weit weit weg in ein exotisches Land gehen, wo wir im Hostel oder als Tauchlehrer arbeiten, um sich Zeit für sich selbst zu nehmen? Müssen wir in Indien an den Stränden von Goa abhängen, um Spiritualität zu finden? Und vor allem: WOMIT sollten wir uns eigentlich beschäftigen, um unser Leben zu bereichern und antworten auf die Fragen des Lebens zu finden?
Erst bei meiner zweiten Yogalehrerausbildung im Allgäuer Yoga-Vidya-Ashram diesen Mai 2019 lernte ich das Konzept der Sevaka richtig kennen. Ein Sevaka ist aus dem Sanskrit übersetzt ein Diener, Praktizierender und Anhänger. In der Welt des Yoga Vidya e. V. bezeichtnet der Begriff spirituelle Aspiranten –Schüler und Sucher – die sich dem selbstlosen Dienen widmen. Doch was bedeutet das in der Realität? Das Leben des Sevaka gibt es in Deutschland hauptsächlich in der Yoga Vidya Sivananda-Tradition. Man lebt klösterlich nach den Werten des Integralen Yogas in einer Gemeinschaft. Du verpflichtest dich in einem Team im Haus sieben Stunden am Tag mitzuhelfen, sei es als Lehrer, im Garten, als Techniker oder wie wir später von Manisha hören werden, im Social-Media-Bereich. Somit leistest du etwas zum Gesamtbeitrag und hältst die Gemeinschaft am Laufen. Und was bekommst du dafür? Eigentlich alles, was der Mensch zum Leben und Frohsein braucht: Du bekommst sattviges (reines, nährstoffreiches) Essen, einen Schlafplatz und die Möglichkeit, dich selbst spirituell weiterzuentwickeln durch z. B. Yogakurse oder Meditationseinheiten. Es gibt jedoch auch verpflichtende Veranstaltungen, wie abends dem Satsang und die gemeinschaftliche Meditation. Wie in einer Kommune bekommt jeder auch ein gerechtes Taschengeld, das ca. 340,00 € pro Monat beträgt, sowie die weitere Entlohnung und Möglichkeit zur spirituellen Weiterentwicklung durch die Teilnahme an Fortbildungen von Yoga Vidya, die jedem Sevaka aus Kostengründen bis zu einer bestimmtem Menge gewährt wird. Wer Yoga Vidya Bad Meinberg kennt, der weiß, dass die Auswahl an Fortbildungen nicht gerade klein ist und die Qual der Wahl, was man noch so an Interessanten Themen ausprobieren könnte, riesig. Aber warum solltest du damit bereichert werden? Keine Ausgaben aber dafür im Ashram arbeiten? Das klingt etwas öde für dich? Ich möchte dir die Geschichten von Bea, einer zukünftigen Sevaka, und Manisha, einer Sevaka seit sechs Monaten, vorstellen. Und vielleicht wirst auch du dich in ihren Geschichten wiederfinden.
Bea, eine 26-jährige Lehramtsabsolventin in Deutsch und Geschichte, habe ich im Mai bei meiner Yogalehrer-Ausbildung kennengelernt. Bea ist jung, energisch und fast immer gut drauf. Sie plante zunächst nur zwei Wochen der Ausbildung im Allgäu zu absolvieren und die restlichen zwei Wochen später in einem anderen Ashram zu beenden. Doch in Bea hatte sich während der ersten zwei Wochen der Ausbildung innerlich so viel getan, dass sich der Weg, weiter im Allgäu zu bleiben, für sie stimmig anfühlte. Und so blieb Bea die vollen vier Wochen und verließ das Ashram mit dem Bedürfnis, Sevaka im Allgäu zu werden. „Das erste Mal vom Sevaka hatte ich in den ersten paar Tagen der Yogalehrer-Ausbildung gehört“, meinte Bea im Interview, „Ich wusste davor nicht einmal, dass dieser Ort ein Ashram ist (…) Alles hat mich daran angesprochen: Die Tatsache, dass man eine krasse Tagesstruktur hat, dass man sich eigentlich nicht mehr selbst Gedanken machen muss, was man tun soll und was nicht. Im Ashram wohnen Menschen, die mir gleichgesinnt sind, die offen sind für Themen über Körper, Geist und Seele. Und vor allem konnte ich während der Ausbildung sehen, dass das Yoga-Vidya-Konzept auf meinen Organismus gewirkt hat und sich etwas in meinem Geist bewegt hat, was ich davor noch nicht kannte. Auch wenn es nicht immer angenehm war, waren es Zeichen dafür, dass ich an mir noch viel arbeiten kann. Und diese Zeichen habe ich im Alltag außerhalb des Ashrams nicht gespürt.“ Die Idee vom Sevaka-Leben manifestierte sich schleichend in Beas Kopf während der Yogalehrer-Ausbildung. In der Zeit mit anderen Sevakas erhielt sie mehr und mehr Informationen über den Sevaka-Alltag und merkte, dass es ihr zusprach. Ihre Unsicherheiten über dieses positive Gefühl wurden von anderen Menschen, Sevakas und Nicht-Sevakas, durch positive Rückmeldungen langsam in den Hintergrund gerückt. „Mir ging es nie so gut wie im Ashram und ich will nicht, dass es aufhört“, erzählte Bea.
Von ihrer zukünftigen Sevaka-Zeit erhofft sich Bea, noch mehr zu sich selbst zu finden. Es soll eine bewusste Auszeit werden, die zur eigenen Weiterentwicklung genutzt werden soll. Durch die längere Zeit im Ashram möchte sie die positiven Effekte, die sie bislang schon gespürte hatte, verinnerlichen und anschließend nachhaltig mit sich tragen und an andere Menschen weitergeben. Sie erhofft sich so mehr Harmonie und Einheit mit sich selbst und ihren Mitmenschen. Doch sie hat auch etwas Angst davor, nach ihrem Einzug im Ashram in einer Blase zu leben und aus dem gesellschaftlichen Leben, so wie sie es kennt, raus zu sein oder auch im Ashram den normalen Kreislauf der Gesellschaft nicht loslassen zu können und sich unproduktiv zu fühlen. Hinzu kommt natürlich die Furcht vor der tieferen Analyse des „Selbst“ und die eigene Enthüllung von Verdrängtem, das dann wieder an die Oberfläche kommen könnte.
Beas Familie und Freunde haben zumindest ihr Vorhaben als einen positiven nächsten Schritt gesehen und finden es total toll, dass sie nun diesen neuen Weg nach ihrem Studium einschlägt. Ihre Mutter beichtete ihr sogar, dass sie selbst früher einmal so eine Erfahrung machen wollte. Die Aussage, dass sie ein Auslandsjahr mal anders macht wurde auch von den Skeptikern akzeptiert.
Bea will übrigens hauptsächlich in das Yoga Vidya Ashram im Allgäu ziehen, da sie dort ihre positiven Erfahrungen sammeln und den Prozess ihrer Weiterentwicklung beobachten konnte.
Manisha lebt hingegen im Ashram von Bad Meinberg. Dies ist das größte der Yoga-Vidya-Ashrams und Europas führendes Yoga-Seminarhaus und Ausbildungszentrum. Das Ashram von Bad Meinberg besteht aus mehreren Häuserkomplexen mit regelmäßig wechselnden Gästen und Ausbildern. Langweilig wird es dort also eher nicht.
Manisha ist eine 34-jährige junge Frau, die auf Yoga Vidya vor einigen Jahren gestoßen ist, weil ihre Freundin ihr Bad Meinberg für einen „Yoga-Retreat“ empfohlen hatte. Sie buchte sich dort für eine Woche als Individualgast ein und machte eine sehr überraschende und interessante erste Begegnung mit einer ganz anderen Art Yoga. „Erst in Bad Meinberg hatte ich etwas vom „Integralen Yogaweg“ gehört“, erzählte mir Manisha. „Dieses ganzheitliche Prinzip fand ich sehr ansprechend, da ich selbst Yoga nur auf der körperlichen Ebene durch Vinyasa-Flow-Kurse praktizierte, aber die Meditation gar nicht miteinschloss.“ Diese eine Woche hatte sich auf Manisha unglaublich positiv ausgewirkt. Sie holte sich am Ende ihres Retreats einige Bücher im Yoga-Vidya-Shop, um Antworten auf manch unbekannte Praxis im Integralen Yoga zu finden, und meldete sich dann auch schnell für ein Einführungsseminar ein, um alles, was ihr in der Woche widerfahren ist, zu verstehen. „Anfangs fand ich das alles schon sehr komisch“, gab Manisha zu, „aber ich merkte auch, dass es mir irgendwie gut tat.“
Manisha begann also in ihrer Morgenroutine mehr und mehr Yoga einzubauen. Da ihr Job in einer Social-Media-Agentur sie nicht erfüllte, sah sie das Yoga als eine Möglichkeit, um sich noch einmal auf andere Weise weiterzuentwickeln. Irgendwann begann sie die zweijährige Yogalehrer-Ausbildung bei Yoga Vidya, um mehr mit Menschen im Austausch zu sein, die sich ebenso für diesen Weg interessierten wie sie selbst. Zahlreiche Aufenthalte in Bad Meinberg als Besucherin oder für Fortbildungen folgten. Bad Meinberg wurde ihr Rückzugsort und Yoga wurde mehr und mehr in ihrem Alltag eingebracht. Dann wollte sie irgendwann ihrem „Agenturleben“ den Rücken kehren, um ihre Zeit dem zu widmen, was sie tatsächlich glücklich machte. Sie wurde Sevaka in Bad Meinberg. „Da meine Familie meine Entwicklung verfolgt hatte, war niemand über meine Entscheidung überrascht. Alle meinten, dass es zu mir passen würde. Die meisten kannten auch schon Bad Meinberg, da ich zuvor viel darüber erzählt hatte. Meine Mutter war froh, dass ich die Agentur verließ und meine ehemaligen Kollegen waren sogar ein bisschen neidisch“, gestand die junge Sevaka glücklich.
In Bad Meinberg kann sie jetzt in Ruhe Yoga ausleben und es auch weitergeben. Durch das Leben in einer Gemeinschaft und mit der Gemeinschaft selbst hat sie das Gefühl, dass sie mehr in der Welt und ihren Mitmenschen bewirken kann. Nun ist sie ebenfalls im Social-Media-Bereich tätig. Doch das Social-Media-Team in Bad Meinberg ist viel ruhiger als in ihrer alten Agentur. Hier wird nicht mit Druck gearbeitet, sondern auf die Individualität des Teammitglieds Wert gelegt. Die Entscheidung, in ein großes Ashram wie Bad Meinberg zu gehen, war ebenfalls eine sehr gut durchdachte gewesen. Manisha hatte zuvor viel in Metropolen gelebt und das Leben in einer kleinen Gemeinschaft hätte für sie den Verlust der doch manchmal positiven Anonymität der Großstadt bedeutet. Bad Meinberg fühlt sich jedoch nicht wie ein kleiner Ort an, sondern hat ein unglaubliches Angebot und Möglichkeiten, sodass auch dort selten Langeweile aufkommt. Gleichzeitig hat man seine Rückzugsmöglichkeit.
Der Alltag in Bad Meinberg hängt sehr von dem Team ab, in dem der*die Sevaka mitarbeitet. Während Manisha im Social-Media-Team ihre sieben Stunden Arbeit am Tag sehr flexibel gestalten kann, ist ein Sevaka in der Küche stark an seine Schicht gebunden. Um 6 Uhr morgens geht es bei Manisha los mit ihrer Pranayama-Praxis, den Atemübungen. Um 7 Uhr praktiziert sie Hatha Yoga. Anschließend führt es sie ins Büro, bevor Manisha um 11 Uhr beim Brunch ihre erste richtige Mahlzeit zu sich nimmt. Nach dem Essen arbeitet sie weiter bis zum Abendessen um 18 Uhr. Am Abend gibt es die Möglichkeit, Vorträge zu besuchen oder beim Akro-Yoga oder dem Frauenkreis teilzunehmen, bevor es um 20 Uhr zum Satsang geht. Ihre Erwartungen an ihr Leben im Ashram wurden absolut erfüllt. Manisha plant zwei bis drei Jahre im Ashram zu leben und so viel von den Fortbildungsmöglichkeiten mitzunehmen wie möglich.
Manisha kann ihr Leben als Sevaka absolut weiterempfehlen. Nur vor einem warnt sie: Man sollte nicht aus der falschen Motivation ein Sevaka werden. Es sei nicht die Welt, die alles heilt, es bietet jedoch die Möglichkeit Yoga tatsächlich zu leben und nicht nur zu praktizieren. Somit ist ein Ashram vielleicht doch nicht der Ort für ein post-abiturielles Year-off. Praktizierst du aber Yoga oder würdest es gerne mehr praktizieren und suchst auch du nach mehr Ruhe und Harmonie in deinem Leben, wäre das vielleicht auch ein Weg, ohne Südamerika oder Indien bereisen zu müssen. Wahrscheinlich sogar ein seelisch ereignisreicherer Weg…